Dem Verständnis der „gespaltenen Persönlichkeit“ des Mondes einen Schritt näher gekommen

Ein internationales Forscherteam unter der Leitung von Wissenschaftlern des University College London und der Peking-Universität hat gerade eines der tiefsten Geheimnisse der Rückseite des Mondes gelüftet und einen Verdacht, der die internationale astronomische Gemeinschaft seit Jahrzehnten plagt, mit konkreten Zahlen untermauert.
Die neue Analyse bestätigt tatsächlich die Annahme, dass das Innere des Mantels auf der Rückseite unseres Trabanten deutlich kühler ist als auf der Vorderseite. Und diesmal beruht die Entdeckung, die gerade in „ Nature Geoscience “ veröffentlicht wurde, nicht auf komplexen Computersimulationen, sondern auf einem sehr handfesten Beweis: den fast zwei Kilogramm 2,8 Milliarden Jahre alten Basaltgesteins, das vor einem Jahr von Chinas historischer Chang'e-6- Mission auf der Rückseite gesammelt und zur Erde zurückgebracht wurde. Die Sonde hat den Wissenschaftlern wohl die Werkzeuge an die Hand gegeben, die sie brauchten, um die „gespaltene Persönlichkeit“ des Mondes endlich zu verstehen.
Der Vollmond, der uns in jeder klaren Nacht verzaubert, ist wie eine leuchtende Leinwand mit dunklen Flecken, die poetisch „Meere“ genannt werden, in Wirklichkeit aber weite Basaltebenen sind, die durch urzeitliche Vulkanausbrüche entstanden sind. Es handelt sich um eine relativ flache Oberfläche mit einer sehr dünnen Kruste.
Die Rückseite hingegen ist eine völlig andere Welt. Sie ist gebirgiger, hat eine deutlich dickere Kruste und ist fast frei von diesen dunklen „Meeren“. Es ist eine uralte Landschaft, übersät mit Kratern, die an die turbulenten Anfänge des Sonnensystems erinnert.
Natürlich stimmt da etwas nicht. Wenn der Mond nach der katastrophalen Kollision eines marsgroßen Protoplaneten (genannt Theia) mit der Erde entstand, wie konnte er dann eine so extreme Asymmetrie entwickeln? Das ist das große Rätsel des Mondes, das Wissenschaftler seit mehr als einem halben Jahrhundert beschäftigt.
Die Antwort, oder zumindest ein Teil davon, liegt der neuen Studie zufolge in einem Konzept, das wie wissenschaftlicher Fachjargon klingt, aber der Schlüssel zu allem ist: die asymmetrische Verteilung der wärmeerzeugenden Elemente.
Die Analyse der Proben ergab tatsächlich, dass die Lava, aus der diese Elemente entstanden, tief im Inneren der Rückseite bei einer Temperatur von etwa 1.100 Grad Celsius kristallisierte. Vergleicht man diese Zahl mit ähnlichen Proben von der Rückseite des Mondes, die in den 1970er Jahren von den Apollo-Missionen geborgen wurden, ergibt sich ein Unterschied von rund 100 Grad Celsius. Der Fund ist somit eine wahre „thermische Momentaufnahme“ der Mondvergangenheit und, in den Worten von Co-Autor Yang Li, „der erste Beweis anhand realer Proben“, dass die Monddichotomie nicht nur oberflächlich ist, sondern tief in den Mond eindringt.
Die Untersuchung der von Chang'e 6 zurückgebrachten Gesteine deutet direkt auf eine ungleiche chemische Zusammensetzung als Hauptursache für diesen Temperaturunterschied hin. Im Mittelpunkt der Debatte stehen Uran, Thorium und Kalium. Diese drei Elemente sind nicht nur für ihre Verwendung in der modernen Technologie bekannt, sondern auch, weil sie radioaktiv sind. Ihre Isotope sind instabil und zerfallen ständig, wobei Energie in Form von Wärme freigesetzt wird. Und hier auf der Erde hält diese „radiogene“ Wärme den Erdmantel warm und treibt geologische Prozesse wie Plattentektonik und Vulkanismus an.
Auf dem Mond hingegen neigen diese Elemente dazu, sich zu einer speziellen Mischung namens KREEP (Kalium, K; Seltene Erden, REE; und Phosphor, P) zu verklumpen. Wissenschaftler hatten erwartet, dass KREEP, da es mit den Kristallen, die sich beim Aushärten des ursprünglichen Mondmagmas bildeten, nicht kompatibel war, gleichmäßig verteilt wäre. Doch das war nicht der Fall. Aus irgendeinem Grund sammelte sich der Großteil dieses Materials im erdzugewandten Mantel.
Diese zusätzliche, auf nur einer Seite des Satelliten konzentrierte Wärme und die Tatsache, dass durch die Einbeziehung von KREEP auch die Schmelztemperatur des umgebenden Gesteins gesenkt wird (ein Detail, das durch andere Studien bestätigt wurde), erklären, warum die sichtbare Seite eine Brutstätte vulkanischer Aktivität war, die die riesigen, dunklen Basaltmeere entstehen ließ, während die verborgene Seite viel schneller abkühlte und ihre dickere, unveränderte Kruste wie ein geologisches Relikt behielt.
Dies ist zweifellos ein wichtiger Schritt nach vorne, löst das Rätsel aber nicht. Obwohl die Daten von Chang'e 6 den Effekt (die dunkle Seite ist kälter) bestätigt haben, bleibt die grundlegende Frage unbeantwortet: Was könnte dazu geführt haben, dass sich KREEP nur auf die der Erde zugewandte Seite konzentrierte? Hierzu gibt es natürlich mehrere Hypothesen, doch keine davon ist endgültig.
Die am weitesten verbreitete Theorie ist die „Schwapptheorie“. Nach der Entstehung des Mondes durch den Theia-Einschlag war dieser nichts weiter als eine Kugel aus geschmolzenem oder halbgeschmolzenem Material. Hätte jedoch ein zweiter gewaltiger Einschlag die Rückseite getroffen (oder hätte der Theia-Einschlag selbst eine ungleiche Wirkung gehabt), könnte die freigesetzte seismische Energie ein „Schwapp-“ oder „Aufwirbeln“ des Magmas im Inneren verursacht haben. Da das KREEP-Material die geringste Dichte hatte und zuletzt kristallisierte, wäre es durch Konvektion auf die gegenüberliegende, also die sichtbare Seite gedrückt und konzentriert worden.
Eine weitere faszinierende Theorie besagt, dass die Erde einen zweiten, kleineren Mond besaß, der sich nach der Kollision mit Theia aus derselben Trümmerscheibe bildete. Dieser zweite Mond, von anderer Zusammensetzung und Temperatur, wäre in seiner frühen Phase bei geringer Geschwindigkeit mit dem Hauptmond kollidiert. Der Aufprall, sanft, aber ausreichend für die Fusion, hätte die Rückseite mit der dickeren, kühleren Kruste des zweiten Mondes „gepflastert“, während sich das KREEP, das sich bereits auf dem ersten Mond befand, auf der Vorderseite konzentriert hätte.
Wie auch immer der genaue Mechanismus aussieht, die Wärmeasymmetrie ist real und besteht seit 2,8 Milliarden Jahren. Sie hat die Mondgeologie nachhaltig geprägt. Deshalb ist die Analyse der Chang'e-6-Proben, die aus einem Gebiet entnommen wurden, das ein Fenster in die fernste Vergangenheit darstellt, ein Triumph wissenschaftlicher Forschung und Methodik. Tatsächlich datierten die Forscher das Gestein nicht nur durch Messung des Zerfalls von Uran in Bleiisotope (ein chemischer „Fingerabdruck“, der mit der Präzision einer Uhr arbeitet), sondern verwendeten auch Elektronen- und Ionensonden, um die Zusammensetzung und Kristallisationstemperatur zu bestimmen und diese Daten anschließend mit den Apollo-Gesteinen zu vergleichen.
Das Ergebnis war etwas, das bis vor kurzem unmöglich schien: die Bestätigung eines nichtsymmetrischen, sich selbst verstärkenden Prozesses der Planetenentwicklung, der vor Milliarden von Jahren zum Stillstand kam.
Die Arbeit ist jedoch noch lange nicht abgeschlossen, und die Forscher arbeiten bereits an der nächsten Phase der Untersuchung: Sie wollen eine endgültige Antwort auf die aktuelle Temperatur des Mondmantels auf beiden Seiten erhalten. Obwohl der Wärmeunterschied wahrscheinlich weiterhin besteht, hat die Abkühlung des Mondes seit der ersten Katastrophe nicht aufgehört.
Letztendlich liefert uns diese Entdeckung nicht nur eine Antwort auf unsere Frage zum Mond, sondern auch ein Modell dafür, wie schwere Elemente verteilt sind und wie radioaktiver Zerfall das geologische Schicksal einer Welt bestimmen kann. Wenn der Mond, unser nächster Nachbar, unter seiner Doppelseite ein so tiefes Geheimnis birgt, welche Rätsel warten dann auf den Milliarden von Exoplaneten, von denen wir heute wissen, dass sie das Universum bevölkern, darauf, gelüftet zu werden?
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